Bei der Gründung einer neuen Airline kommt es nicht selten zu Verzögerungen bei der Aufnahme des Flugbetriebes, da hierfür unter anderem umfangreiche behördliche Genehmigungsverfahren zu durchlaufen sind. Im Jahr 2017 passierte es, dass eine in Deutschland neu gegründete Fluggesellschaft bereits einen buchbaren Flugplan veröffentlichte, obwohl diese noch gar nicht im Besitz einer vom Luftfahrtbundesamt erteilten Betriebslizenz war, jedoch davon ausging, bis zur geplanten Aufnahme des Flugbetriebes die Betriebslizenz erhalten zu haben.
Nachdem absehbar war, dass die Betriebslizenz vom Luftfahrtbundesamt nicht rechtzeitig erteilt werden wird und die Flugzeuge zunächst am Boden bleiben müssen, stornierte die Fluggesellschaft kurzfristig die geplanten Flüge. Gegenüber den betroffenen Fluggästen wurde die Zahlung einer Ausgleichszahlung augfrund der Flugannullierungen nach der Fluggastrechteverordnung (EU-VO 261/2004) jedoch verweigert. Die Airline berief sich darauf, dass nur Fluggesellschaften im Sinne der Fluggastrechteverordnung bei Annullierungen Ausgleichszahlungen leisten müssten. Nach der Legaldefinition in Art. 2 a) der Fluggastrechteverordnung sei ein ,,Luftfahrtunternehmen“ ein Lufttransportunternehmen mit einer gültigen
Betriebsgenehmigung. Man selbst habe aber im Zeitpunkt der geplanten Flüge über keine gültige Betriebsgenehmigung verfügt. Daher sei man keine Fluggesellschaft im Sinne der Verordnung und somit den betroffenen Passagieren nicht zur Zahlung von Ausgleichsleistungen verpflichtet.
Ob die Airline dennoch verpflichtet ist, Ausgleichszahlungen zu leisten, wird derzeit in zahlreichen Gerichtsverfahren geklärt. Bislang ist die Rechtsprechung hierzu uneinheitlich. Während sich die einen Richter streng an den Wortlaut der Fluggastrechteverordung halten und eine Ausgleichspflicht verneinen, bejahen andere Richter eine Zahlungspflicht. Die Kammer 6b C des Amtsgerichts Wedding entschied in einem kürzlich ergangenen Urteil, dass trotz der fehlenden Betriebsgenehmigung Ausgleichszahlungen zu leisten seien und begründet dies wie folgt:
[…]Es ist richtig, dass gemäß der Legaldefinition in Art. 2 a) der Fluggastrechteverordnung ein ,,Luftfahrtunternehmen“ ein Lufttransportunternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung ist. Unstreitig ist auch, dass die Beklagte zum Zeitpunkt der geplanten Flugdurchführung nicht über eine gültige Betriebsgenehmigung verfügte.
Das Gericht ist jedoch der Ansicht, dass die Fluggastrechteverordnung dennoch analog auf ein Flugunternehmen anzuwenden ist, dass Flüge anbietet, weil es davon ausgeht, bis zum geplanten Flugzeitpunkt eine Betriebsgenehmigung zu erhalten. Das Gericht geht davon aus, dass eine Regelungslücke gegeben ist, weil der Verordnungsgeber diesen Spezialfall mit Art 2 a) der Fluggastrechteverordnung nicht regeln wollte. Der Verordnungsgeber dürfte vielmehr bei der Definition des Luftfahrtunternehmens im Sinne der Fluggastrechteverordnung auf eine gültige Betriebsgenehmigung abgestellt haben, um die Definition zu vereinfachen. So mussten im Rahmen der Fluggastrechteverordnung keine neuen Kriterien dafür festgelegt werden, unter welchen Voraussetzungen es sich um ein Luftfahrtunternehmen handelt. Vielmehr konnte auf die bereits existierenden Regelungen zur Erteilung einer Betriebsgenehmigung Bezug genommen werden. Auch die Definition des ,,Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft“ (Art. 2 c) der Fluggastrechteverordnung) wurde dadurch vereinfacht. Denn es konnte auf die Erteilung einer gültigen Betriebsgenehmigung durch einen Mitgliedstaat abgestellt werden.
Auch die für eine Analogie erforderliche Vergleichbarkeit der Interessenlage ist gegeben. Fluggäste, deren Flug aufgrund einer noch nicht erteilten Betriebsgenehmigung annulliert wurde, sind nicht weniger schutzwürdig, als Fluggäste, deren Flug aus anderen Gründen annulliert wurde. Soweit die Beklagte darauf verweist, dass ihre Vertragspartner wussten, dass zum Zeitpunkt der Buchung noch keine Betriebsgenehmigung vorlag, überzeugt dies das Gericht nicht. Die Flugpläne hat nicht das Reisebüro, sondern die Beklagte aufgestellt. Und es war für die Beklagte erkennbar, dass ein ausdrücklicher Hinweis gegenüber den Fluggästen auf die fehlende Betriebsgenehmigung nicht erfolgen würde. Denn nach der Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass dann kein Reisender einen Flug bei der Beklagten gebucht hätte.
Die Beklagte hat sich selbst in den Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung begeben, in dem sie bereits Flüge anbot, obwohl sie noch nicht über eine Betriebsgenehmigung verfügte. Eine nicht rechtzeitig erteilte Betriebsgenehmigung fällt in den Risikobereich der Beklagten. Für eine analoge Anwendung der Fluggastrechteverordnung spricht auch der von der Rechtsprechung anerkannte weite Schutzzweck der Verordnung.
Für die hier vorgenommene Auslegung spricht auch, dass Art 2 b) der Fluggastrechteverordnung auf die Absicht einen Flug auszuführen, abstellt. Unstreitig beabsichtigte die Beklagte, den Flug mit gültiger Betriebsgenehmigung auszuführen. Auch die Grundsätze der Rechtsscheinhaftung sprechen hier für eine Haftung der Beklagten. Die Beklagte hat, in dem sie bereits Flüge anbot, obwohl die noch nicht über eine Betriebsgenehmigung verfügte, in zurechenbarer Weise den Rechtsschein gesetzt, dass sie unter den Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung fällt. Die Kläger durften darauf in schutzwürdiger Weise vertrauen. Zumal Passagieren nicht zugemutet werden kann, vor jeder Flugbuchung die Liste der vom Luftfahrtbundesamt genehmigten Luftfahrtunternehmen zu überprüfen.[…]
AG Wedding, Urteil vom 01.03.2018, Az. 6b C 283/17